Evangelische Kirchengemeinde
Fränkisch-Crumbach

Predigt zu Markus 7, 31-35


Predigt von Irmgard Sykora am 20. September 2009 in Fränkisch-Crumbach

Der heutige Predigttext ist eine Heilungsgeschichte.
Der Evangelist Markus berichtet wie Jesus einen Taubstummen heilt.
Ich lese aus Markus 7 die Verse 31 – 35.

31 Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus,
kam er durch Sidon an das Galiläische Meer,
mitten in das Gebiet der Zehn Städte.
32 Und sie brachten zu ihm einen,
der taub und stumm war, und baten ihn,
daß er die Hand auf ihn lege.

33 Und er nahm ihn aus der Menge beiseite
und legte ihm die Finger in die Ohren
und berührte seine Zunge mit Speichel und
34 sah auf zum Himmel
und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!,
das heißt: Tu dich auf!

35 Und sogleich taten sich seine Ohren auf,
und die Fessel seiner Zunge löste sich,
und er redete richtig.

Gott, wir bitten um deinen Geist, dass wir recht verstehen. Amen

Liebe Gemeinde!
Wer seine Sinne nicht voll gebrauchen kann, der ist eingeschränkt,
eingeschränkt in seiner Wahrnehmungsfähigkeit und Ausdrucksfähigkeit.
Wer nicht richtig hören und reden kann, der ist beeinträchtigt in seiner Lebensqualität.
Er oder sie kann nicht normal und richtig kommunizieren.
Der Kontakt und Austausch mit anderen ist erschwert.
Ein Mensch mit einer Einschränkung ist nicht heil und ganz,
er ist behindert.

Er wird auch behindert,
nämlich von seinen Mitmenschen, die nicht immer die nötige Geduld aufbringen
sich ihm verständlich zu machen und auf seine Äußerungen einzugehen.
Ein solcher Mensch ist ein Stück weit ausgegrenzt,
ausgeschlossen von normalem Miteinander,
die Teilhabe ist erschwert.

Wer seine Sinne nicht so gebrauchen kann wie andere Menschen, so wie es als normal gilt,
dem stellt sich die Welt anders dar.
Er oder sie erlebt die Welt anders als andere.
Wir normal sehende, normal hörende und normal fühlende Menschen können das gar nicht wirklich nachempfinden.
Wir ahnen, dass dem Behinderten etwas fehlt.
Seine Welt ist begrenzt weil seine Wahrnehmung begrenzt ist.
Es fehlt etwas Wichtiges,
vielleicht etwas Entscheidendes.
Er oder sie ist nicht fähig das wahrzunehmen
was für die anderen normal ist, zu dem sie ohne Mühe Zugang haben.

So weit ist das für uns klar, es ist nachvollziehbar und einsehbar.
Die Wahrnehmungsfähigkeit ist unterschiedlich und in Folge dessen ist das Erleben anders.
Die Welt wird anders erlebt, die Weltsicht ist eine andere.

Jeder Mensch erlebt die Welt auf seine Weise.
Wir vernachlässigen die Unterschiede, weil die Übereinstimmungen zu überwiegen scheinen.
Es gibt sie aber
die Unterschiede durch unterschiedliche Lebensbedingungen,
durch unterschiedliche Erfahrungen in Familie und Beziehungen,
unterschiedliche Erziehung und unterschiedliche Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten.
Es gibt erlernte Unterschiede im Umgang miteinander
durch soziale und kulturelle Prägungen.

Jeder Mensch erlebt seine oder ihre Welt auf ganz besondere Weise.
Und dieses Erleben verändert sich im Laufe der Entwicklung.
Menschen lernen,
sie erweitern ihre Möglichkeiten, die Welt zu sehen und zu erleben.
Sie erweitern ihre Wahrnehmungsfähigkeit und ihre Empfindungsfähigkeit -
und ihre Ausdrucksfähigkeit, in ihrer Welt zu reagieren und an ihr teilzuhaben.

Und mit zunehmendem Alter nimmt die Fähigkeit der Sinne dann auch wieder ab.
Wir gleichen diese Verluste durch Brille, Hörgerät und andere technische und medizinische Hilfsmittel ein Stück weit aus.
Aber es ist nicht zu leugnen,
die Grenzen werden auch wieder enger.

Liebe Gemeinde,
wir nehmen das was unsere Sinne empfangen als wirklich und errichten unser Weltbild darauf.
Und normalerweise machen wir uns nicht bewusst, dass auch ein gesundes menschliches Wahrnehmungssystem uns nicht alles zugänglich macht.
Es gibt noch ganz andere Wirklichkeiten.
Ein Hund z.B. hört ganz anderes und viel mehr als wir
und seine Nase spürt für uns Ungeahntes.
Seine Welt stellt sich ihm völlig anders dar und ist in gewisser Weise viel reicher.
Fledermäuse z.B. haben einen ganz feinen Orientierungssinn, jenseits vom Sehsinn, ebenso Delphine.
Von der Weltsicht der Bienen, Ameisen oder Schmetterlinge können wir nur ahnungsweise etwas wissen.
Und gar die Lebenswelt von Pflanzen ist unseren Sinnen verschlossen.
Mancher leugnet deshalb, dass es solches Empfinden überhaupt gibt.

Trotz manch erstaunlicher Erfindung, die die Möglichkeiten erweitert, können wir nicht alles wahrnehmen.
Wir als Menschen bleiben ausgeschlossen von vielen Bereichen der Wirklichkeit und
wir können nicht teilhaben an den Kommunikationsprozessen.

So weit, so gut.
Für die realen Wirklichkeitsbereiche können wir das denkend nachvollziehen
und wir akzeptieren das auch,
es stört uns nicht in unserem alltäglichen Sein.

Es gibt aber noch andere Bereiche, andere Dimensionen.
Es gibt andere Dimensionen, ohne die unsere Welt nicht ganz ist.
Wenn sie ausgeschlossen werden, bleibt ein wesentlicher Wirklichkeitsbereich außen vor.
Wenn sie aus dem Bewusstsein ausgeschlossen werden,
bleibt dieses sehr begrenzt und eingeschränkt,
in gewissem Sinn behindert, nämlich behindert im vollen, heilen Mensch sein.
Wesentliche Bereiche bleiben unentwickelt
und Menschen leben unterhalb ihrer eigentlichen Möglichkeiten, unterhalb dessen was menschengemäß und lebensdienlich ist.

Wir nennen diese Bereiche spirituell, himmlisch, heilig, jenseitig
sie sind gar nicht einfach zu benennen, Sprache kommt da an ihre Grenzen.
Und manch einer leugnet auch hier die Existenz,
weil das nicht fassbar, erklärbar, nicht beweisbar ist.

Ja, messen oder experimentell vorzeigen lässt sich das nicht -
aber es ist erfahrbar,
mehr oder weniger, je nach der Empfänglichkeit der Sinne,
je nach ihrer Offenheit und Wahrnehmungsfähigkeit.
Menschen ahnen und spüren, dass es mehr gibt als der Verstand erfassen kann.
Menschen machen Erfahrungen mit Kräften, die uns umgeben.
Sie beeinflussen uns, sie leiten uns,
manchmal fühlen wir uns bedroht
und oft sind wir beschützt und bewahrt.
Das ist höchst unterschiedlich -
und das ist durchaus nicht nur schön und bereichernd.
Es ist auch beunruhigend, erschreckend, überwältigend
und auch unheimlich in seiner geahnten Macht und Größe.
Es macht  a u c h  Angst.

Wir nennen diese Dimension Gott.
Unsere normalen Sinne lassen nur eine sehr begrenzte Wahrnehmung zu.
Wir haben dafür eine sehr begrenzte,
sehr eingeschränkte Wahrnehmung.
Wir sind hier behindert,
wir haben keinen ungestörten, ungehinderten Zugang zur göttlichen Dimension,
der wir unser Leben verdanken,
aus der wir Lebenskraft erhalten
und in die wir zurückgehen, wenn unser irdisches Leben endet.
Sie umgibt uns, sie erfüllt uns, wir  leben darin, wir können gar nicht anders.
Erst mit Einbeziehung dieser göttlichen Dimension in das Bewusstsein wird das Leben ganzheitlich.
Erst dann werden Menschen heil -
und Menschen sehnen sich danach.

Zu allen Zeiten gab es Menschen, die eine andere, eine erweiterte Wahrnehmung hatten,
durch Begabung, besondere Schulung oder durch tiefgreifende Erlebnisse.
Sie konnten ein Stück weit Zugang und Kommunikation in diese göttliche Dimension hinein erfahren und leben.
Wir nennen sie Propheten.

Sie wissen um die hilfreichen Kräfte, die vertrauensvoll erbeten werden können, die betend in das Leben hineingezogen werden können.
Sie haben eine Vision von heilem und gutem Leben für alle,
gegründet und ausgerichtet auf Gott.

Propheten lehren und leiten, sie versuchen zu vermitteln.
Sie versuchen mitzuteilen was sie erfahren.
Durch ihre Erfahrung haben sie eine andere Sicht auf die Welt bekommen,
auf die Welt und die Menschen, die auf und in der Welt agieren, wie sie mit der Welt und ihrer Verantwortung ihr gegenüber umgehen.
Sie sehen wohin es führt, wenn die Menschen so weiter leben wie sie es tun.
Sie sehen was Menschen sich gegenseitig und den Mitgeschöpfen antun.
Sie sehen das menschengemachte Leiden, den Unfrieden
und sie sehen das gestörte Verhältnis der Menschen zu Gott.
Sie sehen dies und wissen,
dass diese Begrenztheit und Nichtwahrnehmung überwunden werden kann.
Sie sehen und mahnen,
sie mahnen zur Umkehr zu einer anderen Lebensweise,
zu friedlichem Umgang miteinander.
Sie erinnern an die alten Gesetze und Gebote, die einst das Leben regeln halfen,
das Leben der Menschen miteinander und die Beziehung zum Göttlichen.
Sie predigen, sie lehren, sie heilen und helfen nach ihren jeweiligen Möglichkeiten.

Und fast immer wurden und werden sie nicht verstanden,
oft werden sie sogar verfolgt und angefeindet.
Zu groß, zu unfassbar, zu unsagbar ist das für normal empfindende Menschen.
Normale Sprache reicht da nicht hin.
Menschen können das nicht nachempfinden.
Sie können solches nicht glauben,
es reicht über ihr Erfahrungs- und Vorstellungsvermögen hinaus.
Einge wenige lassen sich darauf ein, lassen sich anrühren und machen in der Folge eigene Erfahrungen.
Das verändert ihr Leben und ihre Weltsicht.
In der Bibel werden unzählige Geschichten davon erzählt.

Jesus von Nazareth war einer dieser begnadeten Menschen, der größte, der uns bekannt ist.
Er lebte in grundsätzlicher Verbindung zu dieser göttlichen Dimension.
Sie war ihm so nah, dass er in vertrauter, zärtlicher Sprache vom Vater sprach,
von Gott als dem väterlichen und mütterlichen Begleiter, vor dem kein Mensch Angst zu haben braucht,
der da ist mit seiner Kraft und der es gut mit den Menschen und mit der Welt meint.

Jesus lebte mit all seiner Kraft für die Vermittlung dieses Gottes, dieser neuen Sicht von Gott,
dieser neuen Erfahrungsweise von Gott,
einem Gott, dem man sich ohne Angst anvertrauen kann.
Was er selbst erfahren hatte, das gab er weiter.
Er wollte die Menschen wieder in Verbindung mit diesem Gott bringen und ihre gestörte Beziehung zu ihm heilen,
er wollte ihnen diese Grundlage für ein gelingendes Leben vermitteln.
Das Bewusstsein verändert sich dadurch.
Das eigene kleine Leben ist aufgehoben im Ganzen, in Gott.

Jesus predigte, er handelte, er lehrte und heilte.
Er bewirkte zeichenhafte Wunder.
Er tat Unbegreifliches, um das Unfassbare sichtbar und spürbar werden zu lassen.
Seine Mitmenschen sollten es selbst erfahren, selbst hören, selbst sehen und miterleben.
Einige machten die Erfahrung am eigenen Leib – so wie der Taubstumme in unserer Geschichte.
Ihm wurden die Ohren frei gemacht und die Zunge gelöst, ganz konkret.
Die körperlichen Sinne wurden wieder in Ordnung gebracht, damit sie wahrnehmen und sich ausdrücken können.

Durch die Begegnung mit Jesus, durch seine Berührung wird der Mensch wahrnehmungsfähig,
im ganz konkreten Sinn - und im erweiterten Sinn.
Wer von Jesus angerührt wird, erfährt etwas von der Gotteskraft, die durch ihn wirkt.

Wer sich von Jesus anrühren lässt, erweitert seine Wahrnehmung.
Wenn die göttliche Dimension einbezogen wird,
wenn sich Menschen davon berühren lassen,
wird der Blick erweitert.
Und da gibt es ganz viel wahrzunehmen und zu erfahren,
viel, viel mehr als wir jetzt erahnen können
und viel, viel mehr als wir jemals für möglich halten.

Jesus sieht die Menschen in ihrer Befangenheit, in ihrer Gehemmtheit und Eingeschränktheit – und in ihrer erschwerten religiösen Wahrnhmungsfähigkeit.
Und er nimmt die Hinderungen weg.
Er macht empfänglicher für die Stimme Gottes.
Er befreit von Begrenzungen, die gesetzt sind durch Gesellschaft, Meinung, Konvention, Erziehung, Tradition und Erwartung.
Er befreit von Begrenzungen, die von uns geglaubt und damit akzeptiert werden.

Solche Befreiung wird das Leben verändern,
das jeweils einzelne Leben,
das Zusammenleben der Menschen
im kleinen Kreis und das Zusammenleben der Völker.
Die geglaubten und gelebten Grenzen
werden durchlässig,
sie kommen in Bewegung und können heilsam überschritten werden.
Was vom anderen trennt wird überbrückbar.
Auch mein Gott muss nicht so klein bleiben wie ich ihn denke.

Das Miteinanderleben in der Schöpfung, in der Mitwelt und Umwelt wird sich dadurch ändern.
Die Beziehungen werden sich ändern,
die Beziehung, die Menschen zu sich selbst haben,
zu anderen - und die Beziehung zum Göttlichen.
Das Leben wird reicher und tiefer und die Lebensmöglichkeiten unabsehbar vielfältiger und weiter.
Jesus nannte diese Vision Reich Gottes.

Wer sich von Jesus anrühren lässt, der vermag seine Grenzen zu erweitern - in jeder Hinsicht:
die Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit,
die Grenzen, die ihn von anderen Menschen fern halten und die Grenzen, die errichtet wurden zur Abgrenzung und Ausgrenzung des Göttlichen,
die Grenzen des Denkens und des Bewusstseins -
und das verändert die Sicht auf die Welt.
Das verändert das Sein grundlegend.
Das eigene Sein hat Grund und Ziel in Gott.

So wie Jesus den Taubstummen berührt und ihm die Ohren frei macht, so sollen allen Menschen die Ohren aufgehen,
die Augen aufgehen, die Herzen aufgehen,
dass sie hören, sehen, und spüren:
Gott ist in der Welt, überall sind Spuren und Zeichen wahrzunehmen.

Und allen Menschen soll die Zunge gelöst werden
damit sie davon reden und Zeugnis geben können,
damit sie das weitersagen und weitertragen,
damit sie diesen Geist in der Welt spüren und sich von ihm anrühren und bewegen lassen,
damit sie ihre Furcht verlieren vor diesen göttlichen Kräften und diese nicht ausgrenzen, verneinen und leugnen müssen,
sondern sich diesen Kräften öffnen, sie einlassen ins Bewusstsein,
und sich selbst und das eigene Leben vertrauensvoll überlassen -
und sie wirken lassen
an sich, in sich und durch jede und jeden einzelnen.

Und dann ist es nicht mehr egal wie Menschen leben.
Sie spüren, dass sie eine Verantwortung haben
und zu übernehmen haben,
eine Verantwortung als Menschen -
vor der Welt, vor sich und vor allem vor Gott.

So wie Jesus sollen sie sich auf Gott beziehen.
Sie sollen sich in ihrem Sein auf ihn gründen,
ihre Kraft aus ihm beziehen
und in ihrem Tun auf ihn verweisen.

Diese Botschaft ist das Vermächtnis an die christliche Gemeinschaft, ja, an alle Menschen -
und das gilt es der Welt bewusst zu machen.
Amen.


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